Momente der Vergänglichkeit

Kategorie
Kritik

Momente der Vergänglichkeit

10.000 unterschiedliche Gesten, ein kaum nachvollziehbarer Inhalt. Boris Charmatz nutzt das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen für ein Fest der Details. Bloggerin Patricia Knebel hat sich „10.000 Gesten“ angeschaut und versucht, das Vergängliche in Worten festzuhalten.

 

Von Patricia Knebel

Eine Tänzerin in einem roten, pailettenbesetzten Kostüm kommt auf die nur durch seitlich herunterhängende Leuchtstoffröhren gestaltete Bühne geschossen und bespielt sie für wenige Minuten allein. Sie gibt einen sich rasant vollziehenden Ausblick darauf, was in den kommenden 60 Minuten geschehen wird: eine scheinbar endlose Präsentation körperlicher und verbaler Gesten.

Kaum hörbar erklingt das Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart im Hintergrund. Plötzlich rennen 23 weitere Tänzer*innen auf die Bühne, verdrängen die Solistin. Die Kostüme sind individuell verschieden, erinnern an Zirkus, sind bunt, mit Rüschen, Pailletten verziert. Im Kontrast dazu stehen einige nur mit Unterwäsche bekleidete oder in schwarze Ganzkörperanzüge gehüllte Tänzer*innen.

So individuell wie die Bekleidung ist auch die Bewegung. Keine der Gesten ähnelt sich, in Windeseile vergehen sie, sind kaum fassbar für die Zuschauer. Vom imaginären Presslufthammer, über den Boden ablecken, sich küssen, klatschen oder die Luftgitarre spielen wird jede erdenkliche Bewegungsformel integriert. Die Gesten werden alleine vollzogen, im Duo oder im Kollektiv. Mal geschehen sie extrem schnell hintereinander, dass der Blick kaum folgen kann, mal halten die Tänzer*innen inne, sind für einen kurzen Moment in der Bewegung erstarrt.

Die Puppe tanzen lassen

Eine Regelhaftigkeit oder Logik ist kaum erkennbar, nur hin und wieder schimmern Themen hinter den Gesten durch. Wut/Trauer/starke Emotionen könnte ein solches Thema heißen, wenn alle Tänzer*innen zur nun lauten Musik des Requiems sich fünf Minuten lang die Seele aus dem Leib brüllen, das Schreien mit starken Gesten wie etwa mit einer Pistole schießen oder sich vor Verzweiflung die Haare raufen begleiten. Die verbalen Gesten schwellen an und werden so eindringlich, dass man es als Zuschauer kaum aushält und sich die Ohren zuhalten möchte. Hört doch bitte auf zu schreien! Wenig später wird die Musik leiser, setzt sogar einen kurzen Moment aus, die Oberhand haben wieder die getanzten, tonlosen Gesten.

Plötzlich verlassen die Tänzer*innen die Bühnenfläche, klettern über die Sitzreihen des Publikums, binden die Zuschauer*innen aktiv ein, formulieren gemeinsam mit ihnen neue Gesten, ein Tänzer streichelt die Wange einer Zuschauerin, ein anderer tritt in einen verbalen Dialog mit dem Publikum, ein anderer spritzt eine Dame mit Wasser nass. Die Integration des Publikums geht so weit, dass drei Tänzer eine Besucherin auf und über die Bühne tragen und mit ihrem Körper Gesten vollführen, die Zuschauerin hat keinerlei Einfluss auf die Gestaltung, sie wird bewegt, die Tänzer lassen im wahrsten Sinne des Wortes die Puppe tanzen.

Musikalische Gesten

Die Tänzer*innen kommen zurück auf die Bühne, zählen gemeinsam laut vor, wie viele Gesten schon ausgeführt wurden, etwas über 7.000. Sie müssen weitere einzigartige Augenblicke schaffen. Jede*r Zuschauer*in erlebt das Stück auf eigene Weise, es ist unmöglich, die 24 Tänzer*innen im Blick zu behalten, man muss sich während der 60 Minuten auf einzelne Personen konzentrieren, versuchen, ihre Gesten zu entschlüsseln, verpasst dabei die Gesten der anderen, jede*r Zuschauer*in schafft eine individualisierte Dramaturgie des Augenblicks.

Ein Abend der Vergänglichkeit, des ständig Neuen. Die einzige Konstante ist Mozarts Requiem. Die Musik läuft in gewöhnlicher Satzreihenfolge durch bis zum Schluss, sie wird nicht in einzelne musikalische Gesten dekonstruiert. Auch sonst scheint das Stück wenig bis gar keinen offensichtlichen Bezug auf die Musik zu nehmen. Warum wählte Charmatz das Requiem Mozarts? Ging es ihm um die symbolische Bedeutung der Musik? Nämlich die Vergänglichkeit des Augenblicks. Ist es nicht das, was eine musikalische Totenmesse in Bezug auf das menschliche Leben besingt? Oder ging es Charmatz nur um eine dramatisch klingende Untermalung der Bewegung? Mozart starb vor Vollendung seine Werkes, fertig geschrieben hat es der Komponist Franz Xaver Süßmayr. Stellt sich der Bezug also dadurch her, dass auch das Requiem aus verschiedenen Gesten, verschiedenen Handschriften besteht? Oder versucht Charmatz in seinem Stück alle Gesten zu versammeln, die der Mensch bis zu seinem Lebensende vollzieht?

Das Stück endet mit einer in Dunkelheit getauchten Bühne, die Tänzer*innen sind nicht mehr sichtbar, die letzten Takte des Requiems erklingen laut und wirkmächtig. Die Musik verstummt, der Klang hallt noch sekundenlang nach. Die letzten Gesten des Abends schreibt die Musik allein.