Die Bühne glüht und brüllt
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Kritik
Die Bühne glüht und brüllt
Was passiert, wenn sich der urbane Tanz auf der Bühne präsentiert? Der brasilianische Choreograf Bruno Beltrão und seine Kompanie Grupo de Rua zeigten ihr Stück „Inoah“ zur Eröffnung der Tanzplattform in der Halle 5 auf dem Zollverein-Gelände. Bloggerin Yana Lebedeva ließ sich von einer pulsierenden Energie mitreißen.
Von Yana Lebedeva
Wie kann man sich mit dem Urbanen im 21. Jahrhundert durch den Tanz, durch den Körper auseinandersetzen? Wie treten Tänzer in einen Dialog mit den ZuschauerInnen, wie entsteht ein gemeinsamer Raum? Was passiert, wenn der urbane Tanz die räumliche Grenze überschreitet und sich auf der Bühne präsentiert? Bruno Beltrão ist bekannt geworden das radikale Umdenken von urbanem Tanz, von Hip-Hop und Breakdance durch die Verbindung mit zeitgenössischem Tanz. In „Inoah“ gibt der brasilianische Choreograph Antworten auf diese Fragen mit tänzerischen Mitteln.
Schon vor dem Beginn des Stücks ein Blick auf die Bühne: minimalistisch. Oberhalb der Bühne leuchten neun Leinwände hell. Der Blick richtet sich nach vorne, verliert sich in der geheimnisvollen Dunkelheit des Bühnenraums. Der Saal ist voll und scheint diese Dunkelheit nicht wahrnehmen zu wollen. Aber die Dunkelheit ist wirkungsvoll, wie ein Magnet. Dann leuchtet eine deformierte Lichtquelle auf, vom Hintergrund zum Vordergrund der Bühne. Zwei Tänzer nähern sich in pulsierenden, konvulsiven Bewegungen der Mitte der Bühne an – jeder für sich und jeder in sich. Ein Dialog. Oder ein Konflikt? Sie formen sich zusammen. Und erstarren. Pause. Das ist der Rhythmus der Aufführung: pulsieren – pausieren, als Duett oder Trio, minimalistisch. Kaum Licht und nur ein Ton, der atmosphärisch klingt, nicht wie der konkrete Sound einer Stadt.
Annäherung und Konfrontation
Neun Projektoren zeigen Bilder des Himmels, bewegte Wolken. Vom urbanen Leben deuten nur teilweise gezeigte Leitungsmäste. Der Blick richtet sich auf die Körper, sie sind im Zentrum. Bekleidet oder halbnackt nehmen sie die ZuschauerInnen mit auf die Reise von endloser Annährung und Konfrontation. Konfrontation mit den anderen und mit sich selbst, bis zur völligen Erschöpfung. Das wird immer wieder durch die Szenen mit den Pausen und der Stille, durch die durchgängigen Einzel-und Gruppen-Battle-Szenen verstärkt.
In „Inoah“ ist das Aktuelle des Urbanen mit der Geschichte Brasiliens vereint. Die innere, unterirdische Energie der Stadt trifft auf eine medialisierte Postkartenschönheit der Metropole Rio de Janeiro. Die Favela, die Slums, die Straße. Ausgeblendet bei den gesellschaftlichen urbanen Problemen der Großstädte. Was seit 1950 immer wieder aktualisiert wird. Es geht auch tiefer in die Geschichte Brasiliens mit der kolonialen Vergangenheit, mit den Sklavenschiffen, Sklaven, die Capoeira getanzt haben. Immer wieder erscheinen die geschlossenen Räume mit einer Lichtquelle. Genau in dem Moment geht es über die nationale Grenze hinaus, denn es wird ein neuer Raum geöffnet – ein Denkraum der menschlichen Auseinandersetzung im urbanen Raum, der ewigen Konfrontation von Energie, Natur und Mensch. Es ist ein abstrakter Raum, der durch abstrakte Bewegungen erzeugt wird. Jeder kämpft für sich und gegen den anderen. Oder zusammen mit den anderen? Wie öffnen und schließen sich die Grenzen zwischen den Menschen?
Vulkanische Energie
Die Körper gehören niemanden, scheinen nicht Teil dieser Bühne zu sein. Durch Akrobatikelemente berühren die Körper nur teilweise die Oberfläche der Bühne. Musik und tonlose Szenen machen die offensichtlich neuen Töne sichtbar, die durch die Auseinandersetzung mit den anderen Körpern erzeugt werden. Bruno Beltrão deformiert nicht nur die Tanzgenres, er deformiert die Körper selbst. Die Körper sind angestrengt, angespannt, gebeugt, sie schwitzen. Die Virtuosität von Hip-Hop- und Breakdance-Elementen faszinieren, aber ebenso die Übergänge in die verlangsamten räumlichen und zeitlichen Dimensionen des zeitgenössischen Tanzes, mit dem Fokus auf die Wahrnehmung der inneren Kraft jeder einzelnen Bewegung.
Körper bleiben für einige Sekunden in der Luft hängen. Alles hat eine bestimmte Struktur, kommt immer wieder und geht zurück in die ursprüngliche Position. Der Rhythmus wird schneller. Neue Tänzer kommen auf die Bühne und werden in den Tanzprozess involviert. Immer wieder und wieder. Bis zur finalen Szene mit allen zehn Tänzern. Man hört die Berührungen der Bühne, das Quietschen der Schuhe. In einem bestimmten Moment verwandelt sich das Geschehen in einen Gemeinschaftsraum mit den Zuschauerinnen. Keine Lichtinszenierung, kein Ton. Man hört nur die Körper, die miteinander in Kontakt kommen. In einem bestimmten Moment verliert sich das Gefühl, das etwas dargestellt werden muss. Es wird hier eine Energie erzeugt, zusammen mit den ZuschauerInnen. Die lehnen sich nach vorne, um keine Bewegung zu verpassen. Die Bühne glüht und brüllt, die ZuschauerInnen sind unruhig, spüren diese Vibration. So wird eine Energie erzeugt. Eine vulkanische Energie.