„Eigentlich sollte Rafaële Prima-Ballerina werden”


by Patricia Knebel

Kategorie
Porträt

„Eigentlich sollte Rafaële Prima-Ballerina werden”

Die Choreografin Rafaële Giovanola und der Dramaturg Rainald Endraß haben im Jahr 2000 das Ensemble CocoonDance gegründet. Mit ihrem Stück „MOMENTUM“ wurden sie zur Tanzplattform 2018 eingeladen. Vor einer Probe von  Momentum-xsamples, einer Adaption ihrer zur Tanzplattform eingeladenen Produktion, erzählten sie TPF-Bloggerin Patricia Knebel, wie ihr Leben auch hätte aussehen können, was CocoonDance zum Leben erweckt hat und warum sie Tanz mit bildender Kunst vergleichen. 

Von Patricia Knebel
 

„Drei Ingwertee mit frischer Minze, bitte!” bestellen wir in einem kleinen Café in Köln-Nippes. Nur zwei Tage nachdem ich eine Email an Rafaële Giovanola und Rainald Endraß geschrieben und nach einem Interview gefragt hatte, sitzen wir schon zusammen. In Köln proben die „Eltern“ des Bonner Ensembles CocoonDance zurzeit ein „neues altes“ Stück, Momentum-xsamples, eine Adaption ihrer zur Tanzplattform eingeladenen Produktion, mit dem sich das Kölner Zentrum für Zeitgenössischen Tanz am 27. Februar bei der „6. Biennale Tanzausbildung“ in Berlin präsentiert.
Unkompliziert und herzlich war schon die Vorab-Kommunikation mit den beiden. Jetzt dauert es eine halbe Stunde, bis ich überhaupt dazu komme, meine erste Frage zu stellen. Rafaële Giovanola und Rainald Endraß sprudeln vor Ideen und es gibt so vieles, was sie mir berichten wollen – über die Stücke der letzten 18 Jahre, über ihre persönlichen Lebenswege, über die dualistischen Produktionsbedingungen zwischen Stadttheater und Freier Szene und über ihre Liebe zum Tanz. Wie es eigentlich zu CocoonDance kam, frage ich schließlich: „1999 waren wir mit unseren Kindern auf dem Weg in den Sommerurlaub und haben einen Zwischenstopp in Avignon gemacht, wo gerade das renommierte ‚Off-Festival’ stattfand. Eine Stadt im Ausnahmezustand! Uns hat die Stimmung dort so fasziniert – das wollten wir auch! Wir sind also ins Festivalbüro und haben gefragt ‚Wie macht man das?’“, erzählt die Choreografin Rafaële Giovanola lachend. Natürlich habe man in Avignon den Namen des Stückes und der Company wissen wollen. „Aber wir hatten ja weder ein Stück, geschweige denn eine Company, sondern nur eine Schnapsidee”, lacht Rainald Endraß.

Von der Raupe zum Schmetterling

Angetrieben von einer „Ferienlaune“ entwickelten die beiden also innerhalb kürzester Zeit ein Stück, und die Company ward geboren: „Weil wir nicht viel Zeit hatten, musste es mit der Namensfindung total schnell gehen. Rafaële hatte kurze Zeit vorher bei einem Stück getanzt, wo sie sich wie ein Schmetterling aus einer Art Kokon windet. Bei solch einer Metamorphose weiß man ja vorher auch nicht genau, was später mal rauskommen wird. Genau so war es bei unserer frisch geborenen Company auch – wir hatten keine Ahnung wo es hingehen würde”, berichtet Rainald Endraß. Beim Festival Avignon präsentierten CocoonDance ihr erstes Stück JIGABOO – Fight for your right to be white, das zwei Jahre später mit dem REFLEX-Förderpreis der Patrizia-Van-Russel Stiftung in Groningen (NL) ausgezeichnet wurde. Eine Company war geschlüpft. Dass aus der Raupe ein Schmetterling der freien Tanz-Szene werden sollte, war den beruflichen Anfängen der beiden nicht unbedingt eingeschrieben.

From Institution to Self

Rafaële Giovanola studierte Ballett in Monte Carlo, ihre erste Anstellung als Tänzerin hatte sie in Turin. Von dort aus ging es zum Theater in Frankfurt, dort traf sie auf den Hauschoreografen William Forsythe. „Für meine Ballett-Maestra Marika Besobrasova war Forsythe ein Monster! Sie wollte doch eine Prima-Ballerina aus mir machen! Aber eigentlich waren sich die beiden gar nicht so unähnlich: das gleiche Verrückt-Nach-Bewegung-Sein, das gleiche Alles-Ist-Möglich und die gleiche Art, sich immer wieder in Frage zu stellen“, meint Rafaële Giovanola. Am Theater dort lernte Rafaële Rainald kennen – sie wurden ein Paar. 
Rainald – durch sein Studium und berufliche Erfahrungen eher ein Theatertier – erlangte durch Rafaële sein Interesse und seine Begeisterung für den Tanz. Gemeinsam gingen die beiden von Frankfurt an das Choreografische Theater Freiburg und wechselten mitsamt dem Theater 1997 nach Bonn. Ab 2003 wurde CocoonDance zu ihrer Hauptbeschäftigung. Seit 2004 ist die Company neben dem „fringe ensemble“ (Theater) eine der beiden Hausgruppen des Bonner theaterimballsaal. Ein Glücksfall, sind sich die beiden einig: „Das hat uns gerade den Beginn sehr viel einfacher gemacht. Mit dem Engagement geht eine gewisse Grundförderung einher und eine bestimmte Anzahl an Premieren-Terminen war gesichert.“ 
Mittlerweile hat sich CocoonDance in der freien Szene etabliert. Sie bekommen viele Einladungen, sind international unterwegs und haben sogar ihre eigene Junior-Company. Aber das war nicht immer so. Sicher acht Jahre lang habe es gedauert, meint Rafaële. „Am Anfang waren wir für die Künstler der freien Szene wie ein rotes Tuch. Warum mussten wir, die wir doch eine feste Stelle an einer städtischen Bühne hatten, die Konkurrenz in der Szene noch größer machen?“ Man habe ihre Arbeit auch nicht ernst genommen, erklärt Rainald, aber jetzt könnten sie die Vorbehalte von damals besser verstehen, entdeckten sie sogar manchmal an sich selbst: „Wenn wir hin und wieder Auditions veranstalten, um neue Tänzer zu finden, können wir meistens schon an ihrer Art zu Tanzen sagen, ob sie von einem Stadttheater oder aus der freien Szene kommen – den Tänzern aus der freien Szene fällt es leichter, sich zu öffnen, sich auszuprobieren.“ Klingt ein bisschen so, als seien die beiden Gegner des Stadttheaters? „Nein, definitiv nicht“, erwidert Rafaële. „Ich habe lange im Ensemble getanzt – non, je ne regrette rien! Aber die Arbeit an einem Haus ist eben auch sehr reglementiert. In der freien Szene sind wir extrem flexibel in der Art wie, wo und wann wir arbeiten. Das fördert sehr unsere Kreativität.”

Job sharing – Life sharing

Bei CocoonDance ist Rafaële die Choreografin, Rainald macht die Dramaturgie der Stücke, beide regeln nebenbei aber auch andere, die Company betreffende Belange. Wie das sei, als Paar so eng zusammenzuarbeiten, frage ich sie. „Wir ergänzen uns sehr gut”, antworten beide wie aus einem Mund. Ihre Symbiose wird spätestens hier sichtbar. Auf mich wirken die beiden zwar wie ein Paar, wenn sie beispielsweise von ihrem Sommerurlaub erzählen. Aber wenn sie über ihre Arbeit berichten, dann wirken sie fast noch mehr wie richtig gute Kollegen, beste Freunde, die sich blind verstehen, vereint durch die Sache, die sie beide begeistert – der Tanz. „Rafaële hat einen sehr guten Instinkt, ich bin ein Kopfmensch. Meine abstrakten Ideen kann sie extrem schnell umsetzen“, sagt Rainald. Klingt nach einem „perfect match“. „Wir verbringen so viel Zeit mit unserer Company, da ist es extrem hilfreich, wenn der andere die Leidenschaft teilt”, sagt Rafaële. 
Aber CocoonDance, das betonen die beiden oft, seien nicht nur sie beide, sondern auch alle Tänzerinnen und Tänzer. Ein bisschen so wie eine große Familie würde die Company funktionieren. Das Ensemble interessiere sich sehr für die Konzepte hinter den Stücken, gemeinsam entwickelten sie während der Probe die Stücke, teilweise erfahren sie dabei ganz neue Impulse und überraschende Entwicklungen, die so im theoretischen Konzept noch gar nicht abzusehen waren. Die beiden fassen zusammen: „Alles darf vorgeschlagen, alles darf gedacht werden.“

From Past to Present

18 Jahre gibt es CocoonDance schon, wie hat sich die Arbeit der Company seit 2000 verändert? „Eigentlich bin ich ein Gegner von einer festen Kategorisierung, aber wenn wir unsere Entwicklung betrachten, kann man schon drei Phasen erkennen: Bis 2009 waren unsere Stücke eher dem Theater angelehnt“, erklärt Rainald. „Wir haben versucht, mit dem Körper Themen zu erzählen. Aber nicht so wie im Tanztheater von Pina Bausch, sondern wesentlich abstrakter.“ Der Inhalt der Stücke danach ergab sich aus der Form heraus. CocoonDance arbeitet beispielsweise intensiv mit der Technik von Wiederholungen durch Loops. Die Loops werden zum Thema, der Körper wird in der Konfrontation mit technischen Medien zum unnatürlichen, unauthentischen Körper. In der dritten, bis heute andauernden Phase steht die unmittelbare Körperlichkeit im Fokus. Der Körper wird zum Medium, produziert aber auch gleichzeitig Medien. Oft geht es dabei um die Begegnung mit anderen Menschen. Durch die Veränderung des Bühnenraumes wird die Trennung zwischen TänzerInnen und Publikum aufgehoben, Momente der Interaktion entstehen. 
Was für die beiden Tanz bedeutet, möchte ich abschließend noch wissen. „Tanz ist für uns wie moderne, bildende Kunst. Wir möchten abstrakte Bilder erschaffen, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen und die Menschen weiter zum Nachdenken anregen. Grundsätzlich ist aber alles Tanz – angefangen beim klassischen Ballett bis hin zu völlig abstrakten Improvisationen, Hauptsache die Qualität stimmt”, meint  Rafaële. Zweieinhalb Stunden Gespräch sind wie im Flug vergangen, unser alle Köpfe rauchen. Rafaële und Rainald haben mir einen sehr persönlichen Einblick in die Arbeit von CocoonDance, in ihr Leben gewährt. So viele verschiedene Informationen, Anekdoten und Erinnerungen – als ich auf dem Nachhauseweg das Gespräch Revue passieren lasse, fühlt es sich so an, als würden wir uns schon lange kennen.